Europakenner Ulrich Beyer im Presseclub Dresden
„Der Brexit bringt eine Loose-Loose-Situation für Europa, also ein Verlustgeschäft für alle Beteiligten“, erklärte Ulrich Beyer, Leiter der Abteilung Europa, Internationale Beziehungen, in der Sächsischen Staatskanzlei, im Gespräch mit Dr. Ekkehard Nolting, Clubmitglied und Rechtsanwalt, im Presseclub Dresden.
Drei Jahre nach dem Referendum der Briten seien die Rahmenbedingungen zwischen dem Vereinigten Königreich Großbritannien und der EU immer noch nicht vereinbart. Nachdem der Austiegstermin verstrichen sei, bemühe sich die britische Premierministerin um eine Verlängerung der Ausstiegsfrist. Spätestens nach der Übergangsphase wird Großbritannien zum Drittstaat. Das bringe Veränderungen mit sich, zum Beispiel bei Zöllen, Ursprungsregelungen, Transport, Ein- und Ausfuhr von Waren sowie Produktanforderungen. Betroffen seien ebenfalls Sicherheitspolitik und insbesondere Finanzpolitik.
Momentan herrsche in England die „kollektive Unvernunft“, sagte Europakenner Beyer, der jahrelang das sächsische Verbindungsbüro in Brüssel leitete, denn ohne Abkommen werde ein Chaos produziert.
Vier Probleme sind derzeit für Beyer von besonderer Wichtigkeit. Als erstes die Freizügigkeit der Arbeitskräfte in Europa. Zweitens, wenn es zu einer Verlängerung des Austritts kommt, wie lange läuft dann dieses Abkommen? Drittens seien die Britten seit Jahrzehnten überproportional in Europa an einer Fülle von Forschnungsaufgaben und Projekten beteiligt. Wie will man damit in Zukunft umgehen? Last but not least, der Export und die Zölle. Frage: „Machen wir dann um die Insel herum eine Grenze?“
Oder werden dann Waren, versteckt in „trojanischen Pferden“ über die offene nordirische Grenze nach England geschmuggelt? Welche Folgen hat das für Sachsen? Großbritannien ist immerhin der drittgrößte Handelspartner für Sachsen. Aber auch der zweitgrößte Nettozahler der EU. Ein Hauptgrund, warum die Britten aussteigen wollen: sie zahlen viel und müssen machen, was Europa beschließt. Der Brexit komme auch Deutschland teuer zu stehen, erläuterte Beyer, denn dann müssten die Europabeiträge der 27 Mitgliedstaaten neu definiert werden.
„Wir sind mit Großbritannien so verbandelt, dass wir dringend hoffen, die Britten finden noch einen Kompromiß“, beschwört Ulrich Beyer die gegenwärtige Situation, „am liebsten wäre uns natürlich, es gäbe gar keinen Brexit.“ Der sächsische Landtag habe vorsorglich schon im März ein Übergangsgesetz für den Austritt beschlossen, um Rechtssicherheit herzustellen und zu zeigen: wir sind damit einverstanden.
Wenn die Verlängerung über ein Jahr dauern würde, müssten die Briten paradoxerweise auch am 26. Mai das EU-Parlament wählen, um anschließend sagen zu können: Gut, das war’s. Im Übrigen seien etwa eine Million der Engländer, die 2016 für den Brext gestimmt hätten, inzwischen verstorben. Das von den Engländern viel umstrittene Brexit-Paket dürfe auf gar keinen Fall wieder aufgeschnürt werden, konstatiert Beyer, denn dann begännen die endlosen Diskussionen wieder von vorn.
Die Briten hätten kaum noch jemand, der komplexe Handelsabkommen verhandeln könne, sagt Ulrich Beyer, diese Aufgaben hätten seit Jahrzehnten die EU für alle Mitglieder erledigt. Auch ein Wermutstropfen der Abhängigkeit in der britischen Vorstellung. Ob die Glaubwürdigkeit des EU-Parlaments unter dem Brexit leide, darüber könne man nur spekulieren. Durch den Ausstieg der Briten veränderten sich auch die Mehrheitsverhältnisse im europäischen Parlament. Auf jeden Fall wäre jetzt der günstigste Moment für eine Trennung der Insel vom Kontinent, ist Beyers Überzeugung.
„Wir müssen aufpassen“, warnte der Europakenner, „dass die EU mit ihren 500 Millionen Einwohnern nicht auseinanderdividiert wird. Seitens England hatte es nachweislich schon solche Tendenzen gegeben.“ Von den durch England vorgebrachten Zugeständnissen im Scheidungsprozess sei im Brexit-Paket nichts übriggeblieben, beteuerte Ulrich Beyer: „Wir sind noch weit davon entfernt, wie ich mir die Arbeitsweise des EU-Parlamentes vorstelle.“
Kritik aus dem Plenum wurde geäußert über die kleinteiligen EU-Verordnungen. Die kuriose „Gurken-Debatte“ seinerzeit, sei nicht von EU-Kommissaren hervorgerufen worden, antwortete Ulrich Beyer, sondern von der Wirtschaft, damit diese ihre genormten Gurkenkästen von Griechenland bis Grönland einsetzen könne.
Text und Foto: Roland Fröhlich