Der preußisch-klassizistische Bau, in dem wir feiern, wirkt, so heißt es in den Beschreibungen, wie ein Exot in der barocken Architekturlandschaft Dresdens. Vielleicht kommt so manchem auch unser Preisträger als Ein xot vor – als ein Exot in einer Gesellschaft, in der Humanität eine Saisonware ist. Ich nehme an, Jürgen Micksch ist sich in den vergangenen Jahrzehnten bisweilen selber als Exot vorgekommen, wenn er für „Asyl“ und „Integration“ warb in einer Zeit, als dies für viele Zeitgenossen Pfui-Wörter waren, und er belächelt und beschimpft wurde für die Erfindung des Worts „ausländische Mitbürger“. Exot, lateinisch exoticus, heißt „fremdländisch“, „auswärtig“; Jürgen Micksch war verwegen genug, den Versuch zu wagen, auswärtigen, entheimateten Menschen wieder Heimat zu geben.
In Deutschland kommen derzeit Zehntausende von Flüchtlingen an. Das Wort von der „Flüchtlingskrise“ ist allgegenwärtig. Einen besseren Zeitpunkt für die Ehrung von Jürgen Micksch gibt es nicht.
Das Flüchtlingsproblem ist nicht nur Problem des Sommers 2015; es ist das Problem des 21. Jahrhunderts. Es ist ein Problem, das viel größere Anstrengungen erfordern wird als die Stabilisierung des Euro. Es geht hier nicht um das Überleben einer Währung, es geht um das Überleben von Millionen von Menschen. Man wird das 21. Jahrhundert einmal daran messen, wie es mit den Flüchtlingen umgegangen ist. Man wird es daran messen, , was es getan hat, um Staaten im Chaos wieder zu entchaotisieren. Man wird es daran messen, welche Anstrengungen unternommen wurden, um entheimateten Menschen ihre Heimat wiederzugeben. Das ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Gesellschaft ein radikales Umdenken verlangt.
Leute wie Jürgen Micksch mahnen dieses Umdenken schon so lange an. Leute wie Jürgen Micksch haben auf die Probleme hingewiesen, als sie noch kaum jemand erkennen wollte. Sie haben auf die Probleme hingewiesen, als man glaubte, eine Grundgesetzänderung reiche aus, um ihrer Herr zu werden. Leute wie Jürgen Micksch wurden von der Politik für Spinner gehalten. Aber: Jürgen Micksch war und ist viel mehr Realist, als diejenigen, die für sich politisch in Anspruch nehmen, Realist zu sein. Er war und ist ein Realist mit Weitsicht und mit Tiefgang.
Vor 27 Jahren, 8 Monaten und 12 Tagen bin ich, bis dahin als junger Staatsanwalt im Dienst der bayerischen Justiz tätig, politischer Journalist geworden. Zwei Monate später habe Jürgen Micksch kennengelernt. Ein neues Ausländerrecht war in Arbeit, Friedrich Zimmermann von der CSU, ein ebenso jovialer wie begnadeter Hardliner war der zuständige Minister – und Jürgen Micksch war in tiefer Sorge. Diese Sorge trug Jürgen Micksch zu mir in die Redaktion. Damals habe ich, angeleitet und angestoßen von Jürgen Micksch, begonnen, mich in das Ausländer- und Asylrecht einzuarbeiten; es ist zu einem meiner großen Themen geworden.
Von Jürgen Micksch, von seinem Verein Pro Asyl und von seinem Interkulturellen Rat habe ich fortan einiges lernen können: Ausdauer und Nachhaltigkeit zum Beispiel. Als Pro Asyl vor bald dreißig Jahren mit seiner Arbeit angefangen hat, war Asyl ein verketzertes Wort. Der Kampf der politischen Parteien gegen das alte Asylgrundrecht prägte meine ersten journalistischen Jahre; die Abschaffung des alten Asylgrundrechts stand im Mittelpunkt der damaligen Bonner Politik. Ich habe erlebt, wie Pro Asyl in fast aussichtsloser Lage, aus der absoluten Defensive heraus gearbeitet und Mitstreiter um sich geschart hat. Ohne Pro Asyl stünde es um Flüchtlinge und Asylbewerber in Deutschland viel schlechter. Pro Asyl hat durch unendlich langwierige Arbeit, durch nachhaltige Arbeit, ganz wesentlich dazu beigetragen, dass es in Deutschland in den vergangenen Wochen und Monaten einen gesellschaftlichen Klimawandel gab, einen Klimawandel, in dem sich die Regierung Merkel für die Aufnahme der Kriegsflüchtlinge aus Syrien entscheiden konnte. Ich glaube, dass diese Aufnahmebereitschaft auch eine Reaktion war auf Pegida und Heidenau, auf die vielen Anschläge gegen Flüchtlingsheime – die Kanzlerin war von diesen Anschlägen so erschüttert wie die Zivilgesellschaft. Die herzliche Begrüßung der Flüchtlinge, die über das missgünstige Ungarn und das durchwinkende Österreich nach Deutschland kamen – es ist die Reaktion der Zivilgesellschaft auf die Tiraden von Rechtsaußen.
Wir ehren den Gründer von Pro Asyl. Jürgen Micksch ist ein ruhiger, ein wunderbar freundlicher Mann, das Gegenteil eines Agitators – aber beharrlich und fest in seinen Zielen. Seine Sprecher, die Sprecher von Pro Asyl, haben die Sache von Pro Asyl von Anfang an mit einem Engagement und einer Verve betrieben, die vielen Politikern (und auch Journalisten) unheimlich war. Selbst der Alt-Liberale Burkhard Hirsch nannte Leute wie den Pfarrer Herbert Leuninger der der erste Sprecher von Pro Asyl war, einen „Fanatiker“, wenn sie die rigorose Haltung der herrschenden Politik gegen Kinderflüchtlinge gegeißelt und in alttestamentarischen Sprachbildern Flüchtlinge als „Botschafter des weltweiten Unrechts“ bezeichnet haben, denen besondere Ehrerbietung gebühre. Solches Reden und solche Kompromisslosigkeit waren und sind einer Politik suspekt, deren Alltag aus Kompromissen besteht und bestehen muss. Die Politik muss aber solches Engagement nicht nur aushalten, sondern würdigen: als Dienst an der Demokratie. Pro Asyl ist eine Stimme der Humanität in diesem Land.
„Der Einzelfall zählt“ – das war einmal der Titel einer großen Aufklärungskampagne. Wie wirksam es ist, den Menschen den Einzelfall nahe zu bringen, das hat Jürgen Micksch ganz am Anfang seiner Flüchtlingsarbeit selbst erlebt. Als in Tutzing, seinem damaligen Arbeitsort, dem Sitz der Evangelischen Akademie am Starnberger See, Flüchtlinge untergebracht werden sollten, Palästinenser, kam es auch dort zu Anwohnerprotesten. Micksch organisierte ein Treffen. Bürger sollten kommen und auch Flüchtlinge. Micksch ließ die Flüchtlinge mit Hilfe von Übersetzern über ihre Fluchtgründe berichten. Vom Elend, in dem sie lebten, von ihrer Arbeits- und Heimatlosigkeit und der Gewalt, der sie ausgesetzt waren. Die Bürger blieben skeptisch, könnte ja alles gelogen sein. Ein Vater erzählte von seinem Sohn, dem in den Fuß geschossen worden sei, der Junge stand neben ihm. „Zeig mal“, sagte der Vater. Da krempelte der Junge sein Hosenbein hoch und zog den Schuh aus. Und die Bürger sahen die Wunde.
Ariane Bemmer hat diese Geschichte vor ein paar Monaten im Berliner „Tagesspiegel“ erzählt. „Das hat die Stimmung im ganzen Ort verändert“, erinnert sich Micksch. Auf einen Schlag. Die Bürger glaubten die schlimmen Geschichten nun und wollten helfen. Sie sammelten Spielzeug und Kleidung für die Neuankömmlinge, sie sahen in ihnen die in Not geratenen Menschen, nicht länger die Bedrohung, den Störenfried. Das ist der Stimmungswandel, den Pro Asyl bewirken kann, den Pro Asyl – so hoffe ich es jedenfalls – bundesweit schon bewirkt hat.
Ohne Pro Asyl wäre die Stimme die Humanität viel leiser in diesem Land. Pro Asyl hat dafür gesorgt, dass das Gewissen wach bleibt. Pro Asyl ist ein Gewissensrüttler. Denn ein eingeschlafenes Gewissen lässt sich leichter abschieben als ein waches. Pro Asyl hat die Stimmung in diesem Land positiv verändert – das Verständnis der Menschen für Flüchtlinge ist gewachsen.
Das Herz und der Kopf von Pro Asyl: Das war Jürgen Micksch zweieinhalb Jahrzehnte lang; die Seele von Pro Asyl ist er, auch nachdem er sein ehrenamtliches Amt als Vorsitzender vor drei Jahren aufgegeben hat, immer noch. Bei der Gründung war er Mitte 40 und Ausländerreferent der Evangelischen Kirche Deutschlands, er war damals seit einem Jahr Vize-Direktor der Evangelischen Akademie in Tutzing am Starnberger See. Flüchtlinge wurden „Asylanten“ und „Scheinasylanten“ genannt damals; und seitdem 1980 erstmals mehr als hunderttausend Flüchtlinge in die Bundesrepublik gekommen waren, sprach man in der Politik von einer „Asylantenschwemme“.
Jürgen Micksch wollte so etwas wie einen deutschen Flüchtlingsrat einrichten. Als Erster besprach er sich mit seinem katholischen Kollegen, der ihm umstandslos riet: „Vergessen Sie’s“. Jürgen Micksch suchte sich andere Verbündete. Die Caritas warnte ihn: Er solle seinen Plan aufgeben, die Zeit sei nicht reif, er würde mit so etwas nur die Politik verärgern. Vom Diakonischen Werk kam die Mitteilung, man werde ihn nicht unterstützen. Heute hat Pro Asyl zwanzig hauptamtliche Mitarbeiter, der Förderverein Pro Asyl zählt zwanzigtausend zahlende Mitglieder.
Damals, 1986, musste Jürgen Micksch persönlich die Redaktionen der FAZ , der Süddeutschen und der Frankfurter Rundschau aufsuchen, auf dass dann dort, wie er sich erinnert, „Fünfzeiler“ über die Gründung von Pro Asyl erschienen. Ich habe im Archiv der Süddeutschen Zeitung suchen lassen; dort fand sich, unter dem Datum vom 10. September 1986 (das war noch vor meiner Zeit), immerhin ein Siebenzeiler: „Wohlfahrtsorganisationen, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen haben in Frankfurt die Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge ‚Pro Asyl‘ gegründet. Ein Vertreter der bundesweit tätigen Initiative teilte mit, die Gruppe wolle die Ansprüche des Grundgesetzes auf Asylrecht von politisch Verfolgen durchsetzen helfen“. Aus dem Fünf- und Siebenzeilen-Verein Pro Asyl ist, unter der Leitung von Jürgen Micksch, eine gewichtigsten Menschenrechtsorganisationen in Deutschland geworden.
Pro Asyl wird gehört, auch vom Bundesamt für Flüchtlinge und Migration. Das war in den Anfangszeiten ganz anders. Aber beide Seiten haben gelernt: die Staatsgewalten haben gelernt – und auch die Leute von Pro Asyl haben gelernt, zum Beispiel dass nicht alle Vorbehalte gegen „die Politik“ stimmen müssen. Jürgen Micksch ist über alledem schlohweiß geworden.
Wie viel Kraft muss einer haben, der seit vierzig Jahren die härtesten Bretter bohrt, die es in Deutschland gibt? Wie muss einer gebaut sein, der seit Jahrzehnten mit beharrlicher Energie für ein humanes Ausländerrecht und für einen guten Umgang mit Flüchtlingen kämpft? Und welches Gemüt braucht einer, den viele Politiker, ja selbst seine Kirchenoberen als nervigen Spinner abgetan haben, bist sie dann irgendwann doch noch anfingen, seine Vorschläge näher zu betrachten? 1980, als Jürgen Micksch den Begriff der „multikulturellen Gesellschaft“ erfand und ins Gespräch brachte, hat ihn kaum jemand verstanden, nicht einmal seine eigene Kirche. Sein Arbeitgeber, der Rat der EKD, verbot ihm, den Begriff weiterhin zu verwenden.
Wie viel Kraft muss einer haben, um mit solchen Widerständen umzugehen? Er braucht den Glauben an die Kraft des Guten, wie sie diesen Jürgen Micksch prägt. Er braucht die unerschütterliche Herzlichkeit, wie sie diesen Jürgen Micksch auszeichnet. Und er braucht wohl auch das Gottvertrauen des Christenmenschen, wie es dieser Jürgen Micksch hat, der von Beruf evangelischer Pfarrer ist und von Berufung tatkräftiger Optimist.
Micksch hat sich um die religiösen Minderheiten schon gekümmert, als die deutschen Innenminister „Integration“ noch für ein unanständiges Wort hielten. Wäre es nach Micksch gegangen, gäbe es die deutsche Islamkonferenz nicht erst seit 2006, sondern schon seit 1990. Genauso wie ihn stelle ich mir einen modernen Missionar vor. Jürgen Micksch ist, ohne dass er missionarisch auftritt, ein Missionar für die Menschenrechte und für das Miteinander: für das Miteinander der Menschen, für das Miteinander der Religionen.
Jürgen Micksch hat das Wort „ausländischer Mitbürger“ erfunden und die „interkulturelle Woche“. Er hat den „Interkulturellen Rat“ aus der Taufe gehoben, dem er immer noch vorsitzt, und das „Abrahimische Forum“, in dem Juden, Christen, Muslime und die Mitglieder der der kleinen, aber weltweit verbreiteten Religion der Baha i miteinander reden: „Vier Religionen, aber immer der gleiche Gott“, erklärt Micksch den Journalisten geduldig. Seiner Initiative ist es zu verdanken, das es die „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ gibt, an denen sich anfangs fast niemand beteiligen wollte, weil es ja, wie viele sagten, keinen Rassismus in Deutschland gebe. Als Micksch mit einer Arbeitsgruppe, die im Bundesinnenministerium angesiedelt war, Erklärungen zum Thema Rassismus herausgab, da strich das Ministerium das Wort „Rassismus“ aus sämtlichen Texten und ersetzte es durch „Ausländerfeindlichkeit“. Dass es die gab, war unbestritten. Erst seit der Aufdeckung der Mordserie der NSU wird auch offiziell nicht mehr abgestritten, dass es Rassismus gibt in Deutschland.
Jürgen Micksch ist übrigens auch schuld daran, dass 1993 erstmals in Deutschland eine Obdachlosenzeitung namens Biss erschien. Und immer war der in Breslau geborene, mit seiner Mutter im Alter von vier Jahren nach Bayern geflohene Theologe und Soziologe ein politischer Wegmacher, ein realistischer Träumer, ein Organisator und ein Optimist.
Diesen Optimismus hat er vielleicht von Heinz Rühmann. Mit ihm stand der kleine Micksch auf der Bühne. Micksch war in der Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts ein Kinderstar auf der Bühne und im Film. 1954 spielte er im Kindermärchenfilm „Hänsel und Gretel“ die Hauptrolle des Hänsel. Im gleichen Jahr in Roberto Rosselinis „Angst“ (gedreht nach einer Novelle von Stefan Zweig) den Sohn von Ingrid Bergman. Wenn Sie die alte Besetzungsliste studieren, dann finden Sie dort eben nicht nur Ingrid Bergman und Klaus Kinski, sondern auch Jürgen Micksch. Es waren große Rollen. Micksch wäre ein sehr ordentlicher Schauspieler geworden. Wir sind glücklich, dass er es nicht geworden ist. Wir hätten sonst womöglich, um ihn zu ehren, nach Hollywood fliegen müssen. „Warten auf Godot“ gehört, wie Jürgen mir einmal sagte, zu seinen Lieblingsstücken. Er spielte, unter der Regie von Fritz Kortner, zusammen mit Heinz Rühmann in den Münchner Kammerspielen. Warten auf Godot. Das hat etwas mit dem Nicht-Aufgeben zu tun, mit dem Immer-Wieder-Weitermachen. Das passt zum Leben von Jürgen Micksch.
Unlängst habe ich ein langes Gespräch, ein Interview mit Rita Süssmuth, der langjährigen Bundestagspräsidentin, Feministin und CDU-Politikerin geführt, über die Widerstände, die sie in ihrem politischen Leben erfahren hat. Sie hat mir ihr Lebensmotto erzählt: „Scheitern, weitermachen, nochmal scheitern, besser scheitern, weitermachen“. Das Motto stammt von Samuel Beckett, dem Autor von „Warten auf Godot“. Und es passt auch ganz wunderbar zu Jürgen Micksch: „Scheitern, weitermachen, nochmal scheitern, besser scheitern, weitermachen“. Nein, ich komme jetzt nicht zu Sisyphos, wie es bei Gelegenheit der Würdigung von tapferen Menschen üblich ist. Ich komme schon deswegen jetzt nicht auf den alten Steineroller, weil wir uns den, wie es Camus gelehrt hat, als glücklichen Menschen vorstellen müssen. Jürgen Micksch muss man sich nicht als glücklichen Menschen vorstellen. Er ist einer.
Wir alle kennen die Sätze, die begründen sollen, warum man selber nichts zu tun kann gegen all das, worüber man klagt. Dazu gehört der Satz: „Alleine kann man doch ohnehin nichts bewirken“. Oder auch: „Mein Gott, was soll man machen?“, die Welt sei halt schlecht, „das war schon immer so, und das wird auch so bleiben“. Es sind dies Sätze der Gleichgültigkeit, Sätze der Trägheit, der Apathie, der Resignation, manchmal auch der Feigheit. In uns allen stecken solche Sätze: „Was soll man machen? Da kann man gar nichts machen.“ Und: „Nach uns die Sintflut“. Eine Demokratie kann man aber mit solchen Sätzen nicht bauen. Einen guten Rechtsstaat auch nicht. Und die Menschenrechte bleiben, wenn man solchen Sätze nachgibt, papierene Rechte.
In den Flugblättern der Weißen Rose hieß es : „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt“. Und: „Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!“ Diese Worte aus dem Widerstand gegen Hitler sind keine Worte nur für das Museum des Widerstands. Es reicht nicht, sie auf Gedenkveranstaltungen zu zitieren. Diese Worte haben ihre eigene Bedeutung in jeder Zeit, auch in der gegenwärtigen. Sie gelten in Diktaturen und Demokratien, in Rechtsstaaten und in Unrechtsstaaten. In Diktaturen und Unrechtsstaaten verlangen sie ein ungeheueres Maß an Mut. Dort ist der Mut lebensgefährlich. In Rechtsstaaten und Demokratien ist der Mut nicht so teuer, aber billig ist er auch nicht.
„Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den ihr um euer Herz gelegt habt“. Und: „Wenn jeder wartet, bis der andere anfängt, wird keiner anfangen!“. Jeder und Jede muss für sich nachdenken, was ihm und was ihr das heute sagt und wozu es ihn und sie verpflichtet. Jürgen Micksch ist für mich ein wunderbares Beispiel dafür, wie das geht. Widerstand bedeutet heute: Nicht wegsehen bei sozialen Ungerechtigkeiten; wachsam handeln, es nicht dulden, dass Flüchtlinge wie Un-Menschen behandelt werden. Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann, mein verstorbener Lehrer, hat einmal davon gesprochen, dass dieser „kleine” Widerstand beständig geleistet werden muss, damit der große Widerstand entbehrlich bleibt. Es stimmt nicht, wie oft heißt, dass man eh nichts machen kann. Es stimmt nicht, dass die Probleme der modernen Gesellschaft so groß, so unübersichtlich und komplex sind, dass man besser gar nicht anfängt, sie anzupacken. Es stimmt nicht, dass die Übernahme von Verantwortung eine aussichtslose, heillose Sache ist. Das alles sehen wir bei Jürgen Micksch. Er ist der Anti-Pegidist, er ist der feine Kopf der zivilcouragierten Gesellschaft, er ist ihr Lehrer.
Ich habe vom Pro-Asyl-Gründer Jürgen Micksch geredet. Nun rede ich noch kurz vom Vorsitzenden des Interkulturellen Rates. Jürgen Micksch müht sich wie kaum einer um das Miteinander der Religionen, um mehr Verständigung zwischen den abrahimischen Religionen. Daher widme ich ihm, zur heutigen Auszeichnung, meine Interpretation der Dreikönigs-Geschichte.
Die Dreikönigs-Geschichte macht mir seit Kindheits-Zeiten Freude – weil ich mir immer vorgesellt habe, wie die Könige vor dem Stall ankommen. Man muss sich das vorstellen: Wie der König Balthasar von seinem Elefanten herunterklettert, König Melchior von seinem Kamel, König Caspar von seinem Pferd – und wie die drei dann auf dem Weg zur Krippe ihre prächtigen langen Mäntel durch den Schafscheiß schleifen. Als Kind hat mir diese Vorstellung stets Vergnügen gemacht: Es liegt nun einmal viel Dreck auf einer Schafweide, auch dann, wenn ein geschweifter Leitstern den Weg dorthin gewiesen hat und soeben noch der Engel des Herrn bei den Hirten seinen glanzvollen Auftritt hatte.
Die drei Könige kommen also ein wenig verdreckt an beim Jesuskind, und das gefiel mir eigentlich ganz gut; weil somit erstens bewiesen war, dass Sauberkeit selbst bei den allerheiligsten Angelegenheiten nicht das Wichtigste ist; zweitens weil die Könige nicht nur im echten, sondern auch im übertragenen Sinn herunterkommen mussten vom hohen Ross. Man steht nicht prunkend und protzend vor seinem Gott, auch wenn der derzeit in Windeln liegt.
Heute wäre der Stall zu Bethlehem vielleicht ein Flüchtlingskahn auf dem Mittelmeer – und die Könige kämen in Rettungsbooten. Vielleicht stünde die Krippe auch in einem Erstaufnahmelager in München oder in Dresden.
Die Geschichte von den Heiligen Drei Königen gehört zu den großen Erzählungen der Christenheit. Für das Volk waren die drei Könige mit ihrer phantastischen Menagerie jahrhundertelang so etwas wie ein religiöser Zirkus Krone: Das exotisch Fremde hielt seinen Einzug in die Frömmigkeit, und das zauberhaft Andere lagerte in der ansonsten vertrauten, weil ins Heimische transportierten biblischen Szenerie. Die Krippenschnitzer, die Fassmaler und Vergolder haben sich seit jeher mit den drei Königen am meisten Arbeit gemacht. Eine große biblische Basis hat dieser schöne Dreikönigskult nicht. Die Geschichte steht nur in einem der vier Evangelien, bei Matthäus, und auch dort ist nicht die Rede von Königen, sondern, je nach Übersetzung, von persischen Priestern, Magiern oder Sterndeutern. Aber aus den knappen Sätzen beim Evangelisten Matthäus haben Phantasie, Volksglaube und christlicher Symbolismus viel gemacht. Die drei Könige verkörpern, so steht es in der Heiligenlegende, die drei Lebensalter und die drei in der alten Zeit bekannten Kontinente.
Ich bin nun kein Theologe, sondern Jurist … lassen Sie mich trotzdem eine neue Deutung versuchen, eine Deutung im Geiste von Jürgen Micksch: Da machen sich drei Könige auf den Weg, auf die Suche nach Gott. Weil sie miteinander an der Krippe eintreffen, müssen sie sich irgendwo getroffen, verabredet und auch darüber gesprochen haben, wer was wie sucht und warum, was man schenkt und in welcher Haltung und Reihenfolge man sich dem Gesuchten nähert. Das ist der Dialog, der Trialog der Religionen – und dann sind Caspar, Melchior und Balthasar nicht, wie in der Legende, Vertreter von Erdteilen, sondern heute Repräsentanten der drei abrahamitischen Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam. Ich weiß: Das Christentum war vor zwei Jahrtausenden erst im Entstehen; den Islam gab es noch nicht; es gab den Zoroastrismus, dem die „Weisen aus dem Morgenland” in der klassischen Exegese zugewiesen werden. In Konkurrenz zum Christentum stand in den ersten Jahrhunderten der zoroastrische Mithras-Kult und der Manichäismus; heute ist es der Islam.
Gleichwohl. Die neue Interpretation der Dreikönigs-Geschichte könnte also sein: Man findet Gott nicht im Wettlauf, nicht im religiösen Wettkampf; man findet ihn miteinander. Gott findet der, der sich auf den Weg macht, sich ins Unbekannte führen lässt. Er findet ihn im Reden mit den Anderen und in der gemeinsamen Suche; manchmal muss dabei auch einer auf den anderen warten. Jeder König hat sein Schicksal hinter sich. Jeder kennt den Fundamentalismus in sich, den Glauben, die alleinige Wahrheit gepachtet zu haben. Jeder weiß, wie aus Monotheismus heiliger Nationalismus wird, der schlimmer war und ist als der politische. Gott wurde und Allah wird immer wieder zum Motiv einer angeblich um des Heils willen gerechtfertigten Gewalttätigkeit. Die Könige treffen also in prekärem Zustand aufeinander.
Die Christen und auch die, die es einmal gewesen sind, tun sich schwer mit dem Islam-Dialog, oft auch deswegen, weil sie dem muslimischen Glaubensstolz und der Inbrunst vieler Muslime nicht viel entgegenzusetzen haben. Sie fürchten, dass die Zukunft der christlichen Vergangenheit verlorengeht. Die Auseinandersetzung mit den glaubensbewussten Muslimen macht vielen Westlern, ob gläubig oder nicht, ihre eigene Unkenntnis über die Grundlagen des Christentums klar. Die Angst vor dem Verlust der „christlichen Werte” ist ja hierzulande paradoxerweise gerade in jenen Milieus ausgeprägt, die von eben diesen Werten sonst wenig wissen wollen – während viele praktizierende Christen den interreligiösen Dialog suchen und pflegen. Ich meine: Gott ist der Gott, den auch der andere verehrt, aber jeder nennt ihn anders und jeder erkennt ihn anders, jeder preist ihn anders. Der eine baut ihm einen Glockenturm, der andere ein Minarett. Miteinander suchen, Gemeinsamkeiten finden. Das ist ein bisher gescheitertes Jahrtausendprojekt.
Miteinander suchen, Gemeinsamkeiten finden, einen gemeinsamen Weg gehen. Wenn das gelingt, dann gelingt es dank der Leute, die so sind wie Jürgen Micksch. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, das ist der immer wieder zitierte Satz von Erich Kästner. Er passt zu Jürgen Micksch wie zu wenig Anderen. Jürgen Micksch ist ein Wegbereiter. Er ist ein Vorbild. Er ist ein wunderbarer Mensch.
Herzlichen Glückwunsch, lieber Jürgen Micksch, zu diesem wunderbaren Preis. Und wir alle dürfen uns beglückwünschen dazu, dass es diesen Jürgen Micksch gibt.
Prof. Dr. Heribert Prantl ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Leiter der innenpolitischen Redaktion
Alle Reden der Verleihung finden Sie hier zum Nachhören.