Dresden verstand sich immer und versteht sich auch jetzt wieder als eine Metropole der Kunst und der Kultur. Es ist außergewöhnlich für unsere Kulturlandschaft, dass man im Zentrum dieser Stadt, im Kraftwerk, zwei neue große Theater wachsen sieht, dass der Kulturpalast sich häutet und dass Staatsschauspiel und Semperoper mit einem neuen großen Probebühnenzentrum direkt an den Postplatz gehen. Wir strengen uns an, eine Kulturhauptstadt Europas zu werden, und die Oper, die Theater, die Museen, die Konzerte und die Festivals gehören zu den bestbesuchten Deutschlands.
Was bedeutet dies für die Menschen in dieser Stadt? Die Kunst sei eine Raststätte der Reflexion habe ich im vorigen Jahr an dieser Stelle gesagt – und gemeint. Ist Dresden eine nachdenkliche Stadt? Ist das kunst- und kulturaffine Dresden ein Ort des Aufbruchs, des Ausprobierens, der Empathie, der Sensibilität, der Aufklärung, des neugierigen Interesses, der Anteilnahme an dieser Welt? – Ja, auch. Aber auch ein Ort, an dem man immer wieder von vorne beginnen muss. Vielleicht deshalb ein ehrlicher Ort.
Die Stadt hat mit dem Thema des 13. Februar gerungen. Und dann nach einigen Jahren hat man aufgeatmet und gedacht: ja, und sie bewegt sich doch. Man hatte den Eindruck, dass das Identifikationspotential für die gesammelten europäischen und deutschen Neonazis langsam aber endlich, vielleicht endgültig getilgt ist, die unsägliche Frage und Kategorisierung von Täter- oder Opferstadt historisch aufgearbeitet und mental erledigt ist, dass die Notwendigkeit einer deutlichen Abgrenzung von Konservativismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in das politische und gesellschaftliche Bewusstsein der Stadt gedrungen ist. Dresden hat es lange und gründlich durchgearbeitet.
Und dann kam die AfD im vorigen Jahr und dann kam Pegida. Und man hat das Gefühl, von vorne zu beginnen. Warum „hier“ (natürlich nicht nur hier, aber hier besonders) – warum hier, das ist eine Frage, die man jetzt in Dresden stellen muss, auch wenn sie schmerzt, auch weil sie schmerzt. Die Imagekampagnen, die die Welt zu uns verführen sollen, sind im Augenblick obsolet. Die Analyse und Auseinandersetzung mit dieser Minderheit, die sich zur gar nicht schweigenden Mehrheit erklärt, erfolgt täglich erstaunlich beharrlich, geduldig, genau, unpolemisch und einlässig in der sogenannten „Lügenpresse“. Wir wissen um den historischen Kontext dieses Wortes und dass es zu Recht seit gestern das „Unwort“ des Jahres ist. Mich deprimiert im Augenblick jeden Morgen ein circa zwei Zentimeter dicker Pressespiegel zum Thema. Aber diese Presse funktioniert bewunderungswürdig als demokratisches Vehikel und Forum und straft damit ihre Beleidiger Lügen. Auch das sei hier bei einer Veranstaltung der Presse einmal hochachtungsvoll gesagt.
Die Liebe zu Dresden ist schmerzlich – so man eine Stadt denn überhaupt lieben kann und soll. Aber man sieht auch, dass die Kunst- und Kulturstadt Dresden, eine Perle des aufgeklärten hellen europäischen Abendlandes, ihre Arbeit wieder aufnimmt, ganz normal und mühsam. Ja, das Gespräch über den letzten Montag wird auch in unserer Kantine, bei meinem Bäcker und in der Kita meines Sohnes geführt. Und dabei sind durchaus beide Seiten vertreten. Im oft selbstbewusst wertkonservativen Dresden flattert die Mitte der Gesellschaft. Wir werden das Thema annehmen und durcharbeiten müssen. Dass man miteinander redet, ist selbstverständlich in unserer Gesellschaft, noch wichtiger ist es aber im Augenblick, Haltung zu zeigen und die zentralen Werte unserer Kultur, die keine der Ab- und Ausgrenzung, sondern eine der Zuwendung, der Nächstenliebe und der Aufmerksamkeit ist, ganz wertkonservativ zu bewahren.
Wir müssen aussprechen, dass wir uns dafür schämen, dass hier in Dresden das Tabu der deutschen Nachkriegsgeschichte durchbrochen wurde, dass man mit Neonazis nicht gemeinsam auf die Straße geht. Dass die Terminologie auf vielen Schildern an unsägliche, schuldbeladene historische Vorbilder erinnert. Es ist unerträglich, dass gestern hier – wenige Meter entfernt – Menschen mit anderer Hautfarbe demonstrierten, weil sie Angst haben. Dass man darüber nachdenken muss, was es bedeuten würde, wenn die Tötung, der Totschlag eines jungen dunkelhäutigen Mannes einen ausländerfeindlichen Hintergrund hätte. Wir hoffen inständig, dass dies nicht so sein möge. Aber es ist fürchterlich, dass wir solches hoffen müssen. Wir lesen von der Einschüchterung eines Hotelbesitzers, der sein Haus zur Nutzung für Asylanten umwidmen wollte. Und die zynischen Kommentare einer sogenannten Bürgerinitiative dazu. Wir bekommen erzählt, dass es Agenturen für Au pair-Mädchen gibt, die als Ausländer kenntliche junge Menschen nicht mehr nach Dresden vermitteln oder dass ein perfekt deutsch sprechendes und in Deutschland aufgewachsenes Mädchen mit migrantischem Hintergrund bei seiner Vorstellung in der neuen Klasse des Gymnasiums von der Lehrerin gefragt wird, welche Sprache sie denn zuhause sprechen. Sie wechselte die Schule. Die Grenzen zwischen Unsensibilität und offener Fremdenfeindlichkeit, ja Menschenfeindlichkeit, sind fließend. Gerade deshalb gilt es, in der Politik, in der Zivilgesellschaft und natürlich in der Kunst und der Kultur deutliche Zeichen der – ich meine das Wort im besten Sinn – „Liberalität“ zu setzen und die Dinge, auch die Dinge, die nicht gehen, zu benennen und zu sagen, wo das Bemühen um Verständnis aufhört. Im Moment rollen wir sehr mühsam einen großen Stein den Berg hinauf.
Natürlich gibt es das „andere Dresden“, die Menschen vor der Frauenkirche, „Dresden für alle“, „Dresden nazifrei“, die Initiative der Kulturschaffenden für ein „weltoffenes Dresden“, deutliche Worte aus der Kirche und die Würdigung der vielen tätigen Helfer auf dem Neujahrsempfang des Ministerpräsidenten. Auch den erleichterten, sich entlastenden Applaus und oftmals das achtungsvolle Aufstehen von 800 Menschen, wenn unsere Schauspieler am Ende der Vorstellungen eine Resolution verlesen. Man spürt, dass das „andere Dresden“ eigentlich das „eine Dresden“ ist – wenn es sich denn zeigt.
Und wir wollen ein Zeichen setzen für die Offenheit der bürgerlichen Mitte; wir laden in unsere Vorstellungen, speziell ausgesuchte Vorstellungen, diese Fremden ein – vor denen so viele Menschen Angst zu haben vorgeben. Wir kommen ins Gespräch, wir übertiteln und erklären einzelne unserer Veranstaltungen. Denn Integration ist keine Einbahnstraße.
Noch eine Bemerkung: All dies, was ich angesprochen habe, wäre eigentlich eher ein Grund für mich, in Dresden zu bleiben als noch einmal aufzubrechen. Übrigens erst in anderthalb Jahren. Das ist noch eine lange Zeit, um gemeinsam Probleme zu lösen. Ich hoffe, ich kann dann viel von Dresden mitnehmen und erzählen – von seiner Kultur, seinen neugierigen und offenen Menschen und vor allem von seiner Beharrlichkeit, sich in den schwierigen Fragen der Zeit durchzukämpfen und die Dinge zum Guten zu wenden.
Man sollte sich immer wieder lächelnd an einen schönen Satz von Camus erinnern, der da lautet: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Weil er ein Bewusstsein von seiner Aufgabe hat und sie annimmt.
(Dieser Text ist ein Auszug aus der Rede, die der Intendant des Staatsschauspiels Dresden, Wilfried Schulz, anlässlich der Weitergabe des Titels des Dresdner Grünkohlkönigs an den Kommunikationsforscher Wolfgang Donsbach am 15. Januar 2015 im Hilton Hotel in Dresden hielt. Seit 2007 krönt eine Jury aus Vertretern des Hilton Dresden und des Presseclubs Dresden jährlich einen Grünkohlkönig für Dresden. Dieser ist jeweils für ein Jahr im Amt und soll in dieser Zeit „die Zukunft der Stadt vollbringen“. Alle Bürgerinnen und Bürger können im Laufe eines Jahres ihre Vorschläge für den nächsten Grünkohlkönig – unter Angabe einer Begründung für die Nominierung – formlos an den Presseclub Dresden übermitteln.)